Nerd: Illustration aus «Nerdcore»

Der Nerd ist ein unterschätzter Zeitgenosse. Als Nerd bezeichnen wir den Computerfreak und Fachidioten, jenen blassen, pickligen Milchbart, der seine Zeit vor Computer und Spielkonsole verbringt, bei dem eine unterbrochene Internetverbindung schiere Existenzangst auslöst und der ohne Pizzalieferdienst dem Hungertod anheim fiele. Dabei vergessen wir nur allzu gern, dass wir ohne die Nerds dieser Welt nicht wären, wer wir sind: kein Web, kein Computer, keine Software, keine Games. Die Vorstellung vom asozialen Nerd ist nichts als eine Mär.

Die Nerds im richtigen Leben haben mit ihrer Karikatur kaum etwas zu tun. Wer schaffen und gestalten will, dessen Horizont reicht weit über Hard- und Software hinaus. Ein richtiger Nerd ist sich darüber im Klaren, dass sein Tun Teil einer langen Geistes- und Technikgeschichte ist. Ohne ihn würden die Menschen noch immer in Höhlen hausen, weil der Nerd zu allen Zeiten der Inbegriff des Erfinders war: Der haltbarste aller Datenträger ist immer noch das vor zwei Jahrtausenden erfundene Papier, und einen analogen Computer, den sogenannten Mechanismus von Antikythera, haben bereits die alten Griechen gebaut, zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt.

Archi-Nerds der Geschichte

Diesen wirklichen, medien- und geschichtsbewussten Nerd finden wir auch nicht in Kinderzimmern oder Studentenbuden vor. Er ist Forscher oder Künstler, Unternehmer oder Ingenieur, Schriftsteller oder Journalist. Eines verbindet sie alle: Neugier, Wissensdurst, die Lust, über den Zustand der Welt nachzudenken, und der Respekt vor der Geschichtlichkeit menschlichen Tuns. Damit unterscheiden sie sich nicht von den Archi-Nerds der Menschheitsgeschichte wie jenem unbekannten Mathematiker, der vor Tausenden von Jahren den Abakus erfunden hat, wie Archimedes von Syrakus, dem Entdecker der Kreiszahl π, der Hebelgesetze und des nach ihm benannten archimedischen Prinzips, wie Leonardo da Pisa alias Fibonacci, der die westliche Welt das Rechnen mit den indisch-arabischen Zahlen gelehrt hat, wie Denis Diderot, dem Verfasser der «Encyclopédie», jenes Fundaments der Aufklärung, oder wie Steve Jobs, ohne den der Computer niemals wirklich personal geworden wäre und dessen iGadgets aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sind.

Unglücklich nur, dass wir heute ein ausgesprochen kurzes Gedächtnis haben. Nehmen wir die Medien: Die Schlagzeile des Tages, die vor 20 Jahren in der frühmorgens im Briefkasten steckenden Zeitung noch brandaktuell sein mochte, ist im Web von heute hoffnungslos von gestern. Geschrieben und «gecheckt» wird, was sich vor wenigen Stunden, ja vor wenigen Minuten ereignet hat. (Vom Umstand einmal abgesehen, dass «Checken» mit Lesen ebenso wenig zu tun hat wie Copy & Paste mit Schreiben.) Dabei würde ein Nachdenken genau das erfordern, was uns immer mehr abhandenkommt: Zeit. Als in England William Caxton und in Deutschland Johannes Gutenberg ungefähr zur selben Zeit die Grundlagen des modernen Buchdrucks erfanden, konnte die Dauer der Reflexion hinter einem Text gut und gern ein ganzes Gelehrtenleben umfassen. Die gedruckte Zeitung liess diese Spanne auf wenige Tage schrumpfen, was aus Texten zwar ein Gebrauchsgut werden liess, die aber immerhin noch von Meistern ihres Fachs verfasst wurden. Heutige Plattformen dagegen quellen über von Livestreams und Newsfeeds, die das Nachdenken über den Zeitenlauf auf blosse Schlagzeilenkaskaden reduzieren und weniger den Hunger nach Wissen als vielmehr den nach Ablenkung stillen. Wissen aber hat immer mit Einordnung und Wertung zu tun, und beides ist ohne Betrachtung früheren Werdens und Vergehens nicht denkbar. Nur der Blick an den Horizont macht aus der Hektik des Geschehens eine sinnstiftende Abfolge von Ereignissen.

Humus der Geschichte

Die Konvergenz der Medien hat ein eigentliches Paralleluniversum geschaffen: Gadgets und Apps, Social Media, Hightech-Börsengänge – alles gaukelt uns Relevanz vor und lässt uns dabei vergessen, dass diese neue Welt der Multimedien auf historischem Humus gewachsen ist. Umso wichtiger ist es, den Blick immer wieder auf diese Geschichte zu richten. Rückblick ist nicht Marotte: Erst das Wissen um das Gestern und das Reflektieren des Heute erlauben ein Gestalten des Morgen. Ganz egal, ob wir als digital natives in diese multimediale Welt hineingeboren wurden, oder ob wir sie als digital settlers noch mühevoll erkundet haben: Einordnen und Bewerten sind nirgendwo so nötig wie da, wo derart viele Marktschreier am Werk sind. Prozessorgeschwindigkeiten, Displaygrössen und Akkulaufzeiten vernebeln, worum es wirklich geht: um Kulturtechniken des Formulierens und Übersetzens, um Kommunikation zwischen denkenden und handelnden Menschen.

Thomas Weibel

Dieser Essay über den Nerd entstand als Vorwort zu meinem Buch «Nerdcore – ein Konversationslexikon für Nerds und alle, die es werden wollen», das im März 2015 erschien.


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