Radio: Illustration aus «Nerdcore»

«Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern», lässt Friedrich Schiller die Eidgenossen im Nationalepos «Wilhelm Tell» schwören. Vor allem ein einig Volk von Bauern, wird er sich gedacht haben, denn «Kultur» kommt vom lateinischen Wort für «bebauen», und wir Schweizer sind fest verwurzelt im Boden einer bäuerlichen Tradition. Zeitgeist ist uns a priori suspekt.

«Wie böse Winde über die Erde streichen, Seuchen bringen unter Vieh und Menschen oder Pflanzen, Kartoffel vergiften, so weht auch zuzeiten ein fauler, sündiger Geist durch das Menschengeschlecht, Seelen vergiftend, Zeitgeist nennt man gegenwärtig diesen Wind, und selten wird auf Erden jetzt ein Menschenkind gefunden werden, welches nicht kürzere oder längere Zeit an demselben krank gelegen hat»,

wetterte Nationaldichter Jeremias Gotthelf 1846 in seinem kaum bekannten Roman «Jakobs Wanderungen». Gotthelfs Zeitgeist: Das war übles freiheitliches Gedankengut, zugewandert aus Deutschland. Das ist heute nicht viel anders – gierige Steuerbehörden und peitschenknallende Kanzlerkandidaten, alles aus Deutschland. (Dabei vergessen wir nur allzu gern, dass wir mit unserem nördlichen Nachbarn, den wir hassliebevoll den «grossen Kanton» nennen, wirtschaftlich und kulturell untrennbar verbunden sind: Schillers «Tell» entstand in Weimar; Gotthelfs «Jakob» auf Bestellung eines Vereins in Sachsen. Und beide waren sie nicht für ein Schweizer, sondern für ein deutsches Publikum bestimmt.)

Kulturradio im Regal

Der Zeitenwind weht nicht nur Zeitgeist, sondern auch Kultur über die Grenzen. Weil man die nicht anbauen kann wie Kartoffeln, ist sie uns Schweizern grundsätzlich nicht geheuer. Nicht, dass es in der Schweiz keine Kultur gäbe! Jedes eidgenössische Wohnzimmer, das etwas auf sich hält, weist eine ledergebundene Gotthelf-Gesamtausgabe auf, in gutbürgerlicher Nachbarschaft mit einem oder zwei Stücken von Friedrich Dürrenmatt, die dann allerdings verdächtig jungfräulich aussehen.

Im selben Regal steht auch das Kulturradio. Seit den sechziger Jahren ist amtlich vorgeschrieben, dass die zweiten Programme (immerhin gleich deren drei, in Französisch, Deutsch und Italienisch) «höheren Ansprüchen» zu genügen haben. Gebirgige Höhe ist uns Schweizern naturgemäss geläufiger als kontinentaleuropäische Weite, und so ist die Kulturwelle im Land der Konkordanz bald der allseits erwartete Flickenteppich aus Klassik und Kultur, aus Hintergrund und Hörspiel. Und, horribile dictu, gelegentlich sogar aus Neuer Musik und Jazz, aber das tunlichst nur da, wo kaum einer mehr hinhört.

Zwischen Schön- und Zeitgeist

Und so tut sich das Kulturradio schwer damit, die Tür seines bildungsbürgerlichen Kämmerchens aufzustossen. Nicht dass der Anspruch ein kleiner wäre: Musik und Theater, Tanz, Film, bildende Kunst, Architektur, Fotografie, Geschichte, Philosophie und Literatur – Kultur von A bis Z also, von A wie antik bis Z wie zeitgenössisch. Ersterem hören wir gesittet zu und stillen unseren Bildungshunger mit exakt bemessenen, bekömmlichen Wissenshäppchen, Letzteres dagegen lassen wir ungehört verhallen, um ja keine Ungewissheiten zwischen den in schnurgeraden Reihen gesäten Kulturkartoffeln keimen zu lassen. «Wir» ist dabei so übertrieben wie weiland Gotthelfs Zeitenschelte – weniger als 400 000 von uns tun das pro Tag, und im Zeitalter der noch neueren Medien erodiert diese Zahl wie die Berge, die als Bollwerk auch nicht mehr sind, was sie einmal waren.

Kulturradio ist hier nicht Institution, sondern Kompromiss: zwischen beissender Kritik und vollendeter Harmlosigkeit, zwischen Elfenbeinturm und Stammtisch, zwischen Schöngeist und Zeitgeist. Das zeigt auch ein Blick auf die einzige Kunstform, die der Rundfunk hervorgebracht hat: das Hörspiel. Hier herrscht ein fröhliches Kunterbunt aus Bedeutungsschwangerschaft und postmoderner Beliebigkeit, angereichert mit einem guten Schuss Hörfunkklassiker à la Gotthelf und Dürrenmatt, die stauben, wenn man draufklopft.

Stachliges Kraut auf den Äckern

Doch was echte Kultur ist, wird sich nie mit einem stillen Kämmerchen begnügen. Durch Ritzen und Spalten entweichen immer wieder launige Fetzen und Schwaden. Die kräuseln sich dann rotzfrech über kleinen Bühnen und slammen einem verblüfften Publikum Gedichte ins Gesicht, oder sie tarnen sich geschickt auf ungestümen Webseiten und in wilden Blogs, auf denen Satire wächst und Tonkunst, gänzlich unbehelligt von all den eidgenössischen Kulturkartoffelknollen in Reih und Glied.

Und genau hier liegt sie, die Chance des Kulturradios: in der grenzenlosen Wildheit einer Kultur, die sich nicht länger an die Gemarkungen eines Rundfunks hält, der sich – jahrzehntelang in behördlicher Vermessungswut abgezirkelt – gegen die Brandung aus Breaking News, Werbeblock und Castingshow mehr schlecht als recht zu behaupten weiss. Crossover und Klangexperiment, Netzlyrik und Slam Poetry, Hinterhofhörspiel und Computerkunst: Hier tröpfelt unbeirrt eine Kultur vor sich hin, die aus dem Verborgenen in eine Öffentlichkeit rinnt – zornig und versponnen, verspielt und radikal, die staunen macht und provoziert. Wenn es dem Schweizer Kulturradio gelingt, diese Rinnsale einzufangen, sie in die sklerotisch gewordenen Rundfunkgefässe zu leiten und sich ernsthaft mit dieser salzigbittersauersüssen Fruchtbarkeit auseinanderzusetzen, dann gedeiht auf den bildungsbürgerlichen Äckern, zwischen all den Kartoffelreihen aus Klassik und Kunst, bald wieder lebenspralles, stämmig-stachliges Kraut, dem ein giftiger Zeitgeistwind aus Mainstream und Kommerz so schnell nichts anhaben kann.

Thomas Weibel

Dieser Essay zum Thema «Kulturradio in der Schweiz» (mp3, ogg) entstand im Auftrag des Südwestrundfunks für den Sendeschwerpunkt «Europa, ach» (SWR 2 Feature, Sendung «Mehrspur») und wurde am 6. März 2013 gesendet.

 
 
 
 
 
 

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