Bretter, die die Welt bedeuten

Wenig hat sich in den letzten 40 Jahren so drastisch verändert wie das Spielen. Einfache Brett- und Gesellschaftsspiele blicken auf eine lange Geschichte zurück - Würfel und die Vorläufer des heutigen Backgammon, ein Strategiespiel für zwei Spieler, sind bis zu 5000 Jahre alt. Das Videospiel «Pong», 1972 vom Fernsehbauer Magnavox in den USA auf den Markt gebracht, läutete eine spieletechnische Revolution ein, und heute werden sogenannte MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) von Abermillionen Kindern und Jugendlichen gespielt, Spiele, an denen nicht mehr nur zwei oder vier Spieler, sondern eine potenziell unendliche Anzahl Teilnehmer beteiligt sind.


Backgammon (Javascript, DHTML), 2010

Solche Games sind ihres Gewalt- und Suchtpotenzials wegen in Verruf geraten. Doch bei allen Unterschieden der Spieltechnologie sind Spiele geblieben, was sie immer waren: erzählte Geschichten, die den Spieler durch eigenes Entscheiden und Erleben an der Handlung teilhaben lassen. Oft handeln sie von Krieg: Schach etwa ist ein stilisierter militärischer Feldzug, Backgammon erzählt die Geschichte zweier geschlagener Armeen auf dem Rückzug, World of Warcraft ist die Geschichte der Erkundung einer feindseligen Welt, in der ein Fortkommen nur durch soziale, kollaborative Strategien möglich ist.

Die immanenten Narrationen mögen expliziter geworden sein, doch sie verfolgen seit Jahrtausenden unverändert ein und denselben Zweck: Den Spieler in eine Welt zu entführen, die er qua eigener Imagination ausgestaltet, die er kompetitiv oder kooperativ handelnd erkundet und die seiner Fantasie eine narrative Kulisse verleiht. Spiele lassen erleben, was sich in der Realität eigenem Erleben entzieht. Homo ludens: Spielen ist Erfahren und Lernen, Spielen ist Kultur, und Spiele sind Kunst. Als Bühne der Imagination bietet das Spiel ein immersives, ganzheitliches Erleben, ohne das der Mensch nicht wäre, was er ist.

 

Referat gehalten im Rahmen des DAS in Entwicklungspädiatrie am Kinderspital der Universität Zürich. Kurzabriss in Schaller, Roger (2016): «Stellen Sie sich vor, Sie sind... Das Ein-Personen-Rollenspiel in Beratung, Coaching und Therapie». Bern: Hogrefe.

World of Warcraft (11:52; mp3), Radio SRF 2 Kultur, Hörpunkt «Würfel, Brett und Spielkonsole», 2. April 2009

 
 
 
 
 
 

11:52

100 Sekunden Religion

Die Journalistin schreibt Artikel, der Pfarrer Predigten, die Professorin Studien und der Autor Romane. Doch auch hier hält die Konvergenz Einzug: Ein Artikel will auch unterhalten, eine Predigt auch informieren, ein Roman auch überzeugen, eine Studie auch Laien ansprechen. Wer Texte verfasst, die gelesen und genutzt werden wollen, muss mehr als nur sein angestammtes Fachpublikum im Blick haben.

Aus diesem Grund habe ich zusammen mit Prof. Dr. Christian Cebulj, Rektor der Theologischen Hochschule Chur (THC), nach 2014 und 2016 bereits zum dritten Mal ein interdisziplinäres Seminar in Religionspädagogik und Mediendidaktik veranstaltet (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4). Im Verlauf des Semesters haben die angehenden Theologinnen und Theologen ebenso informative wie unterhaltende Kurztexte recherchiert, formuliert, eingesprochen, produziert und publiziert. Und sind seit heute Mitautorinnen und Mitautoren des THC-Hörlexikons 100 Sekunden Religion.

A night to remember

1986 wurde «The Chicago Swing & Blues Revue», die Vorgängerband von «Blues Green», gegründet, und im Mai 1995, ein Jahr nach unserer ersten CD «Sunny Side», hatten wir in Bern unseren ersten (okay, und bisher einzigen) Fernsehauftritt. Trotzdem – oder vielmehr gerade deswegen: A night to remember.

Erzähler der Zukunft

Am 22./23. März ging in Helsinki das zweite Festival of Digital Narratives über die Bühne. Das Ziel des 2017 vom dänischen Onlinepionier Kåre V. Poulsen gegründeten Festivals ist es, den Schöpfern der herausragendsten service-public-Angebote Europas eine internationale Bühne zu bieten und deren multimedialen Meisterwerken zu grösserer Bekanntheit zu verhelfen. In einer Eröffnungs-Keynote habe ich eine kurze, ausgesprochen subjektive Geschichte des multimedialen Storytellings entworfen, deren Videoaufzeichnung seit heute verfügbar ist.

Die Hauptpersonen des Festivals waren allerdings weder die Organisatorin Nordvision noch das finnische Radio und Fernsehen YLE, nicht die 300 Medienschaffenden aus aller Welt, geschweige denn ich als Referent. Diese Ehre gebührt vielmehr den vielen Filmerinnen und Autoren, Fotografinnen und Programmierern – darunter nicht zuletzt meinen Studierenden, den Machern der grossartigen interaktiven Erzählung «Ein Königreich macht Schule», der beklemmenden multimedialen graphic novel «Journey Untold» und der atemberaubenden VR-Dystopie «Yona».

Eine Storytelling-Geschichte zu entwerfen, lenkt den Blick zwangsläufig in die Vergangenheit. Diese Studierenden aber sind die Erzählerinnen und Erzähler der Zukunft, und von ihnen wird noch so manches zu sehen sein.

Netzrepublik

Vor einem Jahr habe ich in einem «Lightning Talk» an der re:publica in der Station Berlin mein mittlerweile elfjähriges Hörlexikon «100 Sekunden» vorgestellt, ein Projekt, das es – wäre es nach den Verantwortlichen des damaligen Schweizer Radios gegangen – nie gegeben hätte, nicht als Website, nicht als Buch, nicht als Podcast.

Dieses Jahr hingegen, viele 100-Sekunden-Beiträge später, war ich ein ganz normaler Tourist in der Netzrepublik. Einer von deren rund 20 000 – und einer, der voll auf seine Kosten kam. Meine persönlichen Highlights: «How an Algorithmic World Can Be Undermined» von Danah Boyd (Youtube), «Filter Clash. Die große Gereiztheit der vernetzten Welt» von Bernhard Pörksen (Youtube), «Mensch und Maschine – wer programmiert wen?» von Ranga Yogeshwar (Youtube) - und, mit viel Gänsehaut und einer Standing Ovation, «Nach Nizza und München – Anatomie eines Shit-Tsunamis» von Richard Gutjahr (Youtube).


Die re:publica 2018 in der Station Berlin als mediales Grossereignis: Opening session auf Stage 1.

Was es über Geld zu wissen gibt

Genau ein Jahr ist es her, dass mein Buch «Bare Münze – Gallier und heilige Gänse: Was es über Geld zu wissen gibt» in der Basler Buchhandlung «Narrenschiff» getauft worden ist. Das «Narrenschiff» schliesst am 18. Mai seine Tore, doch mein Buch gibt's nach wie vor: als Buch, als E-Book und natürlich als Blog – mit vielen neuen Geschichten*.


Buchtaufe am 3. Mai 2017 in der Basler Buchhandlung «Narrenschiff». (Bild: Laurent Gachnang)

*...über die Ticker Tape Parades, Blockbusting, Winston Churchill, den Eiffelturm, Blasen, die Null, den CFA-Franc, Swissloop, die Fokussierungs-Illusion, die Parkuhr, Vermögenspreisinflation, Latrinensteuern, Cum-ex-Geschäfte, Neurofinanz, Geld per SMS, das Wunder von Wörgl, die Registrierkasse, Zinsen und Inflationsziele.

Schweizer Bahnhofsuhr

Von Bundeshaus bis Matterhorn: Die Schweiz hat mehr Wahrzeichen, als man meinen möchte. Und doch: An eines davon denken wir nie. Das ist erstaunlich, denn wir bekommen es täglich zu Gesicht – die Schweizer Bahnhofsuhr.

Replika der Schweizer Bahnhofsuhr mit ihrem charakteristischen Sekundenstopp bei 12 Uhr und federndem Minutensprung, als single page application programmiert in weniger als 5 Kilobyte HTML 5.

I han en Uhr erfunde, wo geng nach zwone Stunde blybt stah.

Die Uhr des Berner Liedermachers Mani Matter, die immer wieder stehenbleibt, hatte ein Vorbild: Die Schweizer Bahnhofsuhr. Sie ziert in vielfacher Ausführung jeden Bahnhof der SBB. Erfunden wurde sie 1944, vom Ingenieur und Selfmade-Designer Hans Hilfiker. Hilfiker erfand am laufenden Band: Allein für die SBB entwarf er Spezialkräne, Perrondächer, Fahrplanprojektoren und ganze Dienstgebäude.

Seine Uhr war ein radikaler Bruch mit den verschnörkelten Zifferblättern aus der Zeit des Jugendstils: Weisser Hintergrund, eine Minuteneinteilung aus strengen Rechtecken, schwarze Zeigerbalken, ein schlanker roter Sekundenzeiger mit einer roten Scheibe, die an die Kelle des Bahnhofsvorstehers erinnert und das sekundengenaue Ablesen der Uhr auch aus Distanz ermöglicht. Hilfikers Design war so elegant, zeitlos und funktional, dass sich heute fast alle Bahnhofsuhren der Welt daran orientieren.

«I han en Uhr erfunde, wo geng nach sächzg Sekunde blybt stah»: Wie in Mani Matters Lied bleibt auch Hilfikers Bahnhofsuhr immer wieder stehen, jede Minute einmal: Immer bei exakt null Sekunden gibt die Hauptuhr einen elektrischen Impuls und stellt so die Ganggenauigkeit aller Bahnhofsuhren sicher. Weil eine sekundengenaue Synchronisation bei der Einführung 1947 noch nicht möglich war, läuft der Sekundenzeiger immer ein bisschen zu schnell, legt dann auf zwölf Uhr eine kleine Pause ein und wartet rund eineinhalb Sekunden lang auf das Signal zum Weiterdrehen. Bis auf den heutigen Tag.

 
 
 
 
 
 

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