Larry Laffer: Illustration aus «Nerdcore»

Denken ist das Ordnen des Tuns. Ordnung macht uns erst zum Menschen: Sie bringt sinnstiftende Struktur ins naturgegebene Chaos. Das Ordnen von Gedanken und Handlungen, Gegenständen und Sachverhalten ist das Fundament des Erkennens. Ordnung aber verlangt Disziplin – und die ist nur um den Preis der Selbstüberwindung zu haben. Uns zu disziplinieren, mit dem Ordnen unseres Selbst niemals nachzulassen, zählt zum genetischen Code der Leistungsgesellschaft.

Disziplin, so lernen wir von Kindesbeinen an, ist der erste Schritt auf dem Weg zum Erfolg. Dabei geht allzu gern vergessen, dass sich unsere Natur nur selten an menschengemachte Ordnung hält. So manchen Staatsmännern, Erfindern, Künstlerinnen, die sich Grosses abverlangt und die Grosses geleistet haben, waren Wesenszüge zu eigen, die sich keine Zügel anlegen liessen, und die sich dem tückischen, sprudelnden, lebensprallen Chaos verschrieben, das am Ende vielleicht mehr mit Triumphen zu tun hat, als unser puritanisches Erbe uns glauben machen will.

Winston Churchill (1874–1965)


Winston Churchill, 1945. (Bild: unbekannt, CC BY-SA 3.0)

Abgeordneter mit 26, Marineminister mit 36, Premier mit 65 und noch einmal mit 76: Winston Leonard Spencer-Churchills lebenslanger Auftritt auf der politischen Bühne ist das Ergebnis eisernen Gestaltungswillens. Den Belastungen – und seiner Depression – standzuhalten, gelingt Churchill nur mit Tabak und Alkohol. 1931, als der Staatsmann in New York von einem Auto angefahren wird, verordnet ihm ein Arzt täglich Spirituosen per Rezept, in beliebiger Menge, mindestens aber einen Viertelliter. «Adolf Hitler war abstinent, Nichtraucher und Vegetarier und hat den Krieg verloren», wird Tschechiens Präsident Miloš Zeman dereinst kalauern, «während der britische Premier Winston Churchill täglich eine Flasche Whiskey und drei Flaschen Champagner trank und acht Zigarren rauchte – und er hat den Krieg gewonnen.»

Anita Berber (1899–1928)


Anita Berber, 1918.

Als Sängerin, Schauspielerin und Nackttänzerin ist Anita Berber selbst im Berlin der Goldenen Zwanziger ein Alptraum der Bourgeoisie. Der Erste Weltkrieg ist vorüber, wilhelminische Strenge weicht einer verzweifelten Jagd nach zweifelhaften Vergnügungen. Gertenschlank und langbeinig, stark geschminkt, aber nie ordinär, mit einem untrüglichen Sinn für Provokation, eine Vorreiterin weiblicher Selbstbestimmung: Als Vamp und Femme fatale wird sie zur Ikone und zum Idol, Monokel und Smoking «à la Berber» sind der letzte Schrei. Die 29 Jahre ihres kurzen Lebens sind ein einziges Zuviel: zu viele Liebschaften, zu viel Cognac, zu viel Morphium, zu viel Kokain. Auf einer Bühne in Beirut bricht sie zusammen, erkrankt an Tuberkulose und stirbt kurz darauf in Berlin.

Edgar Allan Poe (1809–1849)


Edgar Allan Poe, 1849.

Der Vater verschwunden, die Mutter stirbt, als er kaum drei Jahre alt ist: Edgar Allan Poe wächst als Waise auf. Das Verhältnis zu seinem mal grosszügigen, mal übermässig strengen Ziehvater ist gespalten, doch Poe geniesst eine gute Ausbildung und wird ein hervorragender Schwimmer. Schon früh halten Glücksspiel und Alkohol Einzug: Poes Bruder stirbt am Schnaps; er selbst hat nach nur acht Monaten Studium 2000 Dollar Schulden. Aus dem Sportler wird ein Sergeant Major der US-Army, aus dem Gelegenheitsschreiber ein scharfzüngiger Literaturkritiker, aus ersten Gedichten Lyrikbände, Essays und Krimis, aus Poe ein Wegbereiter der modernen Literatur. Und aus dem morgendlichen Schnaps wird eine Überdosis Laudanum, die Poe überlebt, nur um wenig später unter ungeklärten Umständen in Baltimore zu Tode zu kommen.

Amy Winehouse (1983–2011)


Amy Winehouse, 2007. (Bild: Rama, CC BY-SA 2.0)

Sie eine Pop-Queen oder eine Souldiva zu nennen, wäre schamlos untertrieben: Melodiös und heiser, drängend und verschleppt – am Mikrofon ist Amy Jade Winehouses Alt eine Naturgewalt. Von harten Drogen kommt sie los, doch der Alkohol wird zum ständigen Begleiter. Ihr Debütalbum «Frank» mit autobiografischen Songtexten spielt gleich dreimal Platin ein, der furiose Nachfolger «Back to Black» bedeutet den internationalen Durchbruch. Rebellin, Vokalvirtuosin, Stilikone – doch dann gerät alles aus den Fugen: verheerende Auftritte, bei denen sich Amy kaum auf den Beinen halten kann; ein letzter Alkoholexzess, den sie nicht überlebt. Und wie ein Echo hallt die letzte Liedzeile eines ihrer berühmtesten Songs: «Just try to make me go to rehab; I won't go, go, go».

Thomas Edison (1847–1931)


Thomas Alva Edison, 1922.

Wir haben ihm den Phonographen und die Glühbirne zu verdanken – und noch vieles mehr: Thomas Alva Edison arbeitet konsequent in interdisziplinären Teams und gilt deshalb auch als Erfinder der industriellen Entwicklungsabteilung; nach dem Ort seines Labors in New Jersey wird er bald «Zauberer von Menlo Park» genannt. «Zwei Prozent einer Erfindung ist Genie, 98 Prozent dagegen sind harte Arbeit», pflegt Edison zu sagen. Auf der Strecke bleibt der Schlaf. Um mit bloss vier Stunden auszukommen, greift Edison zum «Vin Mariani», jenem mit Kokain versetzten Wein, den 1863 der französische Chemiker Angelo Mariani erfunden hat und der, so will es die Werbung der Zeit, «nährt, stärkt und erfrischt – vor den Mahlzeiten, nach den Mahlzeiten, zu allen Zeiten».

Fjodor Dostojewski (1821–1881)


Fjodor Michailowitsch Dostojewski, 1872.

Er schreibt, wie er spielt: von Dämonen getrieben. Seinen Roman «Der Spieler» diktiert Fjodor Michailowitsch Dostojewski in nur 26 Tagen seiner Stenografin und späteren Frau Anna. Mehr Zeit hat er nicht: Vom Verleger hat er, hoch verschuldet, 3000 Rubel als Vorschuss erbettelt; dessen halsabschneiderische Bedingung: zehn volle Druckbögen in vier Wochen, oder Dostojewski verliert die Rechte an all seinen künftigen Werken. Das Meisterwerk, zwei Stunden vor Ablauf der Frist abgeliefert, ist eine Studie seiner eigenen Sucht. Geld rinnt ihm wie Wasser aus den Händen, Roulette zieht ihn magnetisch an. Das Glücksspiel ist Gift und Elixier zugleich: Erst das Balancieren am Abgrund macht aus diesem russischen Spieler einen grossen Dichter der Weltliteratur.

Dieser Text entstand im Auftrag der LGT-Bankengruppe, Vaduz, und ist Ende September 2017 im Magazin «Credo» erschienen.


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