George Gruntz ist nicht mehr. Ein Musiker voller Begeisterung und Leidenschaft: Ich erinnere mich an das Interview, das ich 2003 mit ihm geführt habe, als wäre es gestern gewesen. All that jazz – farewell George.

Thomas Weibel: George Gruntz – die hiesigen Jazz-Szenen zählen zu den aktivsten Europas. Und doch ist der Jazz die Mauerblume der Schweizer Kultur. Weshalb?

George Gruntz: Jazz ist überall Mauerblume – verglichen etwa mit den «offiziell anerkannten» Musiksparten. Während meiner 23 Jahre in Berlin, als künstlerischer Leiter des jährlichen internationalen Jazzfestivals, war zwar alles massstäblich grösser, aber auch dort musste man immer wieder strampeln, um bei den Medien zu Beachtung und bei Sponsoren zu Geld zu kommen. Jedenfalls musste mein Büro bei der «Festspiele GmbH» ungleich mehr um Anerkennung ringen als das Büro nebenan, wo Bach/Beethoven/Brahms geraspelt wurde.

Weshalb wagen so wenige junge Talente den Schritt in Richtung Jazz? Und weshalb vermarkten sich selbst etablierte Jazz-Grössen so schlecht?

George Gruntz: Das stimmt nicht. Wenn ich an die Abgänger der Schweizer Jazz-Akademien denke, dann staune ich, wie viele junge Menschen sich dem Jazz verschreiben. Wenn einer – wie ich, als ich 16 Jahre alt war – das Jazzfieber in sich spürt, dann kann kommen oder sein, was will. Sich beim Musizieren über die Improvisation selbst realisieren zu dürfen, ist tausendmal schöner, als Notentrauben vom Blatt zu lesen. Bei allem Respekt vor der auslaufenden europäischen Musikkultur und ihren Traditionen.

Vor 80 Jahren hielt der Jazz in Europa Einzug, und vor 80 Jahren nahm in Lausanne der dritte öffentliche Radiosender Europas seinen Betrieb auf. Jazz und Radio – Zwillinge?

George Gruntz: Absolut. Jazz ist Live-Musik, kaum notierbar, aber auf Tonträger fixierbar. Es gibt Standard-Themen im Jazz, die tausende Male aufgenommen wurden, ohne dass je eine Aufnahme mit der anderen kongruent ist. Und der Jazz-Radiohörer, der will eben gerade diese Vielfalt der Interpretationen miterleben, nicht nur auf kommerziellen Tonträgern, LPs, CDs, DVDs et cetera, sondern live an Jazzfestivals oder immer wieder in neuen Studioaufnahmen.

Und wie lässt es sich als Vollblutmusiker mit dem Medium Radio zusammenarbeiten?

George Gruntz: Hervorragend. Jazz-Redaktoren leisten Grossartiges – hauptsächlich in Europa. Hier hat Jazz einigermassen Kultur-Stellenwert, mehr als im Geburtsland USA, wo Jazz immer noch bloss als Unterhaltungsmusik verstanden und in diesem Format von Sendern verbreitet wird. US-Jazz-Sender senden hauptsächlich Elevator Jazz, Berieselungsjazz, und lassen den Jazz von der aktuellen Front völlig aus. Alle Sender sind dort auf Gewinn von Publikumsmehrheiten aus, ohne Service-public-Auftrag wie hier, und sie senden das, was problemlos daherrieselt.

Jazz ist die wohl internationalste aller Musikrichtungen. Wer Rang und Namen hat, lebt und spielt vor allem im Ausland, in Übersee. Ist die Schweiz für grosse Musiker ganz einfach zu klein?

George Gruntz: Für den Jazzmusiker, der sein Leben mit Jazz verdienen will, ist die Schweiz sicherlich zu klein. Ich predige bei meinen Workshops in Schweizer Jazz-Akademien konstant: «Haut ab ins Ausland, so rasch ihr könnt!». Erstens, um das Arbeitsfeld zu vergrössern, zweitens, um die Schweiz und ihre Knorzigkeit aus der Distanz heraus wieder lieben zu lernen. Wer von Institutionen wie «Pro Helvetia» abhängig werden will, der kann sich gleich vor dem Beginn einer Karriere aufknüpfen.

Kinder spielen Blockflöte, Klavier, Geige. Und zu Beginn immer Klassik. Weshalb tut sich die Musikpädagogik so schwer, Jazz als ebenbürtigen Teil der Kultur zu verstehen?

George Gruntz: Dem ist auch nicht mehr ganz so. An den grösseren, guten Jazzschulen der Schweiz – die den örtlichen Musikakademien angegliedert sind – machen alle Abgänger auch eine Lehrerprüfung. Das wird sich bereits ausgewirkt haben – oder es ist zumindest im Kommen.

Wäre es nicht das Piano gewesen: Welches Instrument hätten Sie gewählt?

George Gruntz: Es musste das Piano sein! Weil ich an alles in meiner Jazz-Karriere mit grossem Gwunder heranging, habe ich irgendwann auch alle anderen im Jazz üblichen Instrumente gespielt – Geige mit meinen Vater, der Violonist war, und mit dem Saxophon brachte ich es im «Francis Notz Oktett» in den fünfziger Jahren gar zu öffentlicher Section-Arbeit. Und dieser Gwunder tat ein Leben lang gut beim Orchestrieren meiner Kompositionen und Arrangements.

aus: Weibel, Thomas (2003, Hrsg.): «Kultur bei Schweizer Radio DRS». Schweizer Radio DRS: Basel


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