Rosemarie Weibel-Bieri †

Wenn du zu meinem Grabe
deine Schritte lenkst,
bring Wein und Laute mit,
damit ich zu der Spielmannsweise
tanzend mich erhebe.

Hafis, persischer Dichter (1325–1390)

Rosemarie Weibel-Bieri
2. Mai 1938–14. März 2023

Radiofeature, multimedial

«Hat das Radiofeature eine Zukunft, und wenn ja, warum nicht?», hätte der israelische Satiriker Ephraim Kishon (1924-2005) gekalauert. Wolfram Wessels, bis Oktober 2021 Feature-Redakteur des Südwestrundfunks (SWR) und spiritus rector der grossartigen Featureplattform Dokublog, fragte mich vor ziemlich genau 11 Jahren in Leipzig dasselbe. Meine Antwort im SWR-Interview (mp3, ogg) war etwas länger als Kishons Frage. Dafür etwas weniger binär. Und sie hat sich gar nicht mal so schlecht gehalten.

Das Feature ist Radiokunst in Vollendung. Es arbeitet mit O-Ton, Umgebungston, Musik, Klängen und Geräuschen und hat damit Gemeinsamkeiten mit dem Hörspiel, doch im Gegensatz dazu ist das Radiofeature streng dem Dokumentieren gegenwärtiger und vergangener Realitäten verpflichtet. Heute werde ich mir zusammen mit meinen Studierenden Meilensteine dieses Genres anhören – das Feature-Urgestein «Glocken in Europa» über das Giessen von Kanonen aus Kirchenglocken beispielsweise (Peter Leonhard Braun, SFB 1973), das erschütternde Stück «Dort oben – Struthof» (Kaye Mortley, Aldo Gardini, SRF 1998) über das einzige deutsche Konzentrationslager auf französischem Boden, das vermeintlich leichtfüssige Feature «Lifestyle» (Jens Jarisch, RBB 2006) über die Produktion von Adidas-Turnschuhen in Vietnam und schliesslich das Porträt «The Fighter Pilot» (Kathy Tu, Transom 2013) im Tempo einer Luft-Boden-Rakete.


Radio: Illustration aus «Nerdcore»

Aber was wird aus dieser grossen alten Form des Radios in der schönen neuen Multimedienwelt? Auch darauf versuche ich Antworten zu geben – mit der sozialkritischen Webdoc «À l'abri de rien» (Samuel Bollendorff, Mehdi Ahoudig, Arte 2011) über Obdachlose in Frankreich, die in keiner Statistik auftauchen, mit dem bildgewaltigen Audioslider «Flucht aus Tibet» (Manuel Bauer, 2470media, 2012) über die lebensgefährliche Himalaya-Überquerung eines tibetanischen Vaters und seiner kleinen Tochter, und nicht zuletzt mit dem bahnbrechenden VR-Feature «Notes on Blindness» (Arte, 2016) über die Kassettentagebücher des unaufhaltsam erblindenden britischen Theologen John Hull.

Ich bin mehr denn je davon überzeugt dass das Feature eine glänzende Zukunft hat – nicht mehr als Radioform, sondern multimedial.

 
 
 
 
 
 

4:06

Dieses Interview zum Thema «Das Radiofeature im digitalen Zeitalter» (mp3, ogg) wurde von SWR 2 Feature am 4. März 2012 in der Sendung «Mehrspur» ausgestrahlt.

Kopernikus, der Ketzer

Die Illustration mit den kreisförmigen Umlaufbahnen der sechs damals bekannten Planeten war eine wissenschaftliche Revolution, denn im Zentrum des Modells stand nicht länger die Erde. Die Schrift mit dem Titel «De revolutionibus orbium cœlestium», die der vor genau 550 Jahren geborene Nikolaus Kopernikus kurz vor seinem Tod 1543 veröffentlichte, stellte — nach zwei Jahrtausenden geozentrischen Denkens — vielmehr die Sonne ins Zentrum des Planetensystems. Damit stiess Kopernikus auf erbitterten Widerstand der Religion, erst der Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon, danach von Huldrych Zwingli in Zürich und Johannes Calvin in Genf, am Ende auch der katholischen Kirche, die das Werk 1616 gar auf den Index verbotener Schriften setzte. (Mein Text im Blog des Schweizerischen Nationalmuseums und auf Watson.)

Das heliozentrische Planetensystem nach der Vorstellung des Nikolaus Kopernikus, «De revolutionibus orbium cœlestium» (1543), liber primus, Folio 9 verso. (ETH Zürich)

Grund genug, der für die Astronomie so bedeutenden kopernikanischen Wende Tribut zu zollen: Meine Webapp ermittelt die augenblickliche ekliptikale Länge der damals bekannten Planeten Merkur, Venus, von Erde und Mond, des Mars, Jupiter und Saturn. Anschliessend lässt die Animation die Zeit verstreichen, einen Tag pro Sekunde. Die Leiste am unteren Bildschirmrand zeigt das jeweilige Datum an. Der Fast-forward-Button beschleunigt die Animation auf fünf Tage pro Sekunde; der Stop-Button setzt das Modell auf das aktuelle Datum zurück.

Eine astronomische Revolution für den Desktop und fürs Handy: Was vor 480 Jahren noch ein Kupferstich war, lässt sich heute mit HTML, CSS und Javascript zum Leben erwecken.

 

Mont 2

Im Frühtau zu Berge: «Mont» ist eine Augmented-Reality-Webapp für iPhones, die sämtliche Hügelkuppen und Berggipfel der Schweiz einschliesslich Höhe und Distanz angibt. Das Projekt beruht auf Open Data und ist in Vanilla JS geschrieben.

Der Sammelbegriff «Extended Reality» steht für «Virtual Reality» (VR), «Augmented Reality» (AR) sowie «Mixed Reality» (MR) und umfasst ei­ne Reihe von Ansätzen, deren Ziel es ist, die erlebte Realität mit Daten zu überlagern und dadurch einen informativen Mehrwert zu bieten. Den An­fang machten erste Webapplikationen mit 3D-Inhalten in VR (wie etwa mein Topografie-Projekt «swisspeaX»). Heute dagegen ist es möglich, mittels Javascript auf die Kamera und die Bewegungssensoren des Endgeräts zuzugreifen und so – zumindest theoretisch – handprogrammierte AR-Webapps zu erstellen. Die meisten Onlineprojekte in erweiterter Realität (VR, AR, MR) setzen bisher jedoch 3D-Software, Grafikengines oder die Nutzung von Frameworks wie «Cesium», «three.js» oder «A-Frame» voraus.

Die Fragestellung, die zu meinem Projekt «Mont» geführt hat, lautete daher: Ist es möglich, eine Augmented-Reality-Webapp für Smartphones zu entwickeln

  • als handgeschriebene Website (HTML, Javascript),
  • auf der Basis offener Daten (Open Government Data),
  • ohne Verwendung externer Libraries oder Frameworks,
  • ohne den Einsatz von Closed-Source-Software?


Wie heisst der Berg? iPhone auf den Horizont richten, Namen, Gipfelhöhe und Entfernung ablesen.

Mein Versuch bestand darin, eine AR-Webapp in reinem (d.h. «Vanilla») Javascript zu programmieren. Im technischen Sinn ist «Mont» eine Webseite mit nur 11 kb Programmcode, die eine Kameraansicht der umgebenden Landschaft bietet, die lokale Topografie berechnet und die Namen aller sichtbaren Hügelkuppen und Berggipfel (einschliesslich ihrer Gipfelhöhe und Entfernung) einfügt. Zusätzlich zeigt ein Kompass die aktuelle Blickrichtung an, ein Höhen­messer die eigene Meereshöhe. «Mont» basiert auf der Sammlung geografischer Namen und dem digitalen Höhenmodell der Schweiz, die vom Bundesamt für Landestopografie als Open Data publiziert wurden. Wer's ganz genau wissen will: Hier (pdf) habe ich die zugrundeliegende Technik zusammengefasst.

Im Frühtau zu Berge wir gehn, fallera – dessen Namen wir nun in jeder Lebenslage kennen.

 

Showtime

Für alle, die hoch hinaus wollen: Mit Open Data, darunter dem digitalen Höhenmodell oder dem Ortschaftenverzeichnis der Schweiz, lässt sich trefflich basteln. Zum Beispiel meinen Höhenmesser Altiswiss, der seit heute unter den Showcases von opendata.swiss, der Datenplattform des Bundes und der Kantone, zu finden ist.


Altiswiss: Ein Höhenmesser für unterwegs, auch ohne barometrische Sensoren. (Quelle: Bundesamt für Landestopografie)

Altiswiss ermittelt den aktuellen Standort, gleicht ihn mit dem Höhenmodell ab, zeigt die interpolierte Höhe über Meer an (numerisch und analog), dazu die Koordinaten, die per Triangulation ermittelte nächstgelegene Ortschaft (in Gelb) sowie deren Meereshöhe, Luftliniendistanz und Kompassrichtung (analog sowie in Grad und Himmelsrichtungen). Die Pfeiltasten ermöglichen die Anzeige weiterer in der Nähe gelegener Ortschaften.

Ein Höhenmesser für unterwegs, trotz fehlender Luftdrucksensoren: Open Data macht's möglich.

 

Spiel des Lebens

ChatGPT und die Furcht vor AI ist in aller Munde: Wenn uns künstliche Intelligenzen das Schreiben abnehmen, wer kann dann in Zukunft noch eigenhändig einen geraden Satz zu Papier bringen? Tatsächlich ist ChatGPT vor allem einmal ein Werkzeug. Ein nützliches zumal, denn der Bot kann nicht nur Texte schreiben, sondern auch programmieren. Mein Prompt «Write a working Game of Life in HTML, CSS and Javascript» brachte auf Anhieb ein funktionierendes Programm zustande, das – mit ein paar CSS-Retuschen und zufälligen Farben – das «Spiel des Lebens» simuliert, das sich 1970 der britische Mathematiker John Horton Conway (1937-2020) ausgedacht hat.

Princeton-Professor Conway entsprach nicht ganz dem kreidestaubigen Klischee. Denn er hatte eine Schwäche: das Spielen. Sein «Spiel für null Spieler», wie er es augenzwinkernd nannte, geht so: Man stelle sich ein unendlich grosses Schachbrett vor. Legt man einen Spielstein auf ein Feld, kann dieser Stein maximal acht Nachbarn haben, dann nämlich, wenn auf jedem umliegenden Feld ebenfalls ein Stein liegt. Conway streute wahllos Steine auf sein Brett und stellte sich dabei vor, jeder sei ein Lebewesen. Die virtuelle Natur sollte drei einfachen Regeln folgen: Ist ein leeres Feld von drei angrenzenden Zellen umgeben, dann entsteht darauf eine neue Zelle. Eine lebende Zelle, die zwei oder drei Nachbarn hat, bleibt am Leben; hat sie nur einen oder aber mehr als drei Nachbarn, geht sie zugrunde, je nachdem an Einsamkeit oder Übervölkerung.


«Life», das «Spiel des Lebens», in weniger als einer Minute programmiert von ChatGPT.

Runde für Runde verändert sich so das Spiel. Nächtelang brütete Conway über seinen Spielsteinen – und entdeckte dabei faszinierende Muster: Figuren, die krabbeln können, Figuren, die sich in die Unendlichkeit ausdehnen – und dann urplötzlich in sich zusammenfallen.

Was Conway davon gehalten hätte, dass eine künstliche Intelligenz sein «Spiel des Lebens» in weniger als einer Minute programmiert, wissen wir nicht. Ich vermute: Es hätte ihn amüsiert.

PS: Diesen Post habe ich selbst verfasst, ohne jede Hilfe durch eine KI.

PPS: Noch.

 
 
 
 
 
 

2:25

Dieser Beitrag über das Spiel des Lebens (mp3) entstand im Auftrag von Radio SRF 2 Kultur und wurde am 15. Juni 2010 in der Rubrik «100 Sekunden Wissen» ausgestrahlt.

 

Open Geodata

Am 30. November 2018 verabschiedete der Bundesrat die «Open Government Data»-Strategie für die Jahre 2019–2023. Diese sieht vor, dass die Bundesverwaltung ihre Daten zur freien Nutzung veröffentlicht; ausgenommen sind lediglich Bestände, bei denen ein «legitimes Schutzinteresse» überwiegt, etwa in Bereichen der öffentlichen Sicherheit oder beim Datenschutz.


Webapp swisspeaX, Screenshot und Landschaftsfoto.

Seither werden schrittweise grosse Datenbestände publiziert – seit dem 1. März 2021 zum Beispiel sind sämtliche Geodaten des Bundesamtes für Landestopografie frei erhältlich. Mit diesen Daten, darunter dem digitalen Höhenmodell, einer topografischen Landeskarte, Toponymie-Datenbanken und dem Ortschaftenverzeichnis der Schweiz, lassen sich überraschende Anwendungen programmieren. Vorhang auf für meine Geodaten-getriebenen Webapp-Projekte.

 
 
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